Wohnen und Einrichten im Stil der Gründerzeit
Die Ära der sogenannten Gründerzeit reichte von 1870 bis 1914 und verbreitete sich im Kaiserreich über das ganze Volk. Eine auffällige Wohnkultur, geprägt vom Wirtschaftsaufschwung und einer Neigung zu Fülle und Repräsentation entstand. Die Wohnkultur wurde bestimmt von dem Versuch, jedem Raum einen einheitlichen Stil zu geben. Kantige Grundformen, reiche Ausschmückung und Gliederung sowie gedrechselte Beine mit profilierten Kugelfüßen waren die herausragenden Stilmerkmale der Zeit. Säulen, Kapitelle, Reliefs, Pilaster, Zierknäufe und gelegentlich bekrönende Aufsätze waren weitere stilistische Merkmale.
Die Wohnkultur der Gründerzeit war der wirtschaftlichen Situation angepasst und zog sich durch alle gesellschaftlichen Schichten. Meist wurde Weichholz wie Nussbaum, Kirschbaum, Buche und Eiche bei den Möbeln verwandt. Die bei den vorher herrschenden Stilen und Epochen bestehenden Unterschiede zwischen ländlicher und bürgerlicher Einrichtung verlieren sich in der Gründerzeit, die Wohnformen gleichen sich an.
Im Rahmen der Industrialisierung wurde mehr Wohnraum benötigt. Ganze Stadtviertel entstanden innerhalb kürzester Zeit auf bis dahin grünen Wiesen. Die heutige Bonner Südstadt gilt als Größtes noch existierendes Gründerzeitviertel Deutschlands. Viele andere wurden während der Weltkriege durch Bombardierungen teilweise oder vollständig zerstört.
Bauten im Stil der Gründerzeit sind meist an ihren reich dekorierten Fassaden erkennbar. Private Wohnungsbaugesellschaften ließen diese Gebäude in bis zu sechsstöckiger Bauweise errichten. Dabei lehnten sich die einzelnen Dekorationsformen an andere historische Stile an. Sie umfasste auch die Neorenaissance, den Neobarock sowie die Neugotik. In Verbindung mit der Gründerzeit wurde alles unter dem Oberbegriff Historismus vereinigt. Dabei entstanden für die rasant wachsende Stadtbevölkerung Mietskasernen sowie Villen und Palais für das reich gewordene Großbürgertum.
In diese Zeit fiel auch die Integration neuer Technologie in Design und Architektur, hervorgerufen durch die Weiterentwicklung der Stahlproduktion mit der Möglichkeit, Fachwerktürme aus Stahl zu errichten. Als wegweisend und revolutionär galt in diesem Zusammenhang das, zur Weltausstellung in London errichtete, nur aus Glas und Stahl bestehende Crystal Palace.
Die Industrialisierung in der Gründerzeit erhielt einen wesentlichen Impuls durch die Entschädigungszahlungen Frankreichs, die sich auf 5 Milliarden Francs beliefen. Zur gleichen Zeit wurden Geschäftsbanken gegründet, welche Konzerne und Kartelle unterstützten und das Geld langfristig zur Verfügung stellten. Insbesondere die von Georg von Siemens 1870 gegründete Deutsche Bank verfügte auf allen Erdteilen über Filialen zur Unterstützung der deutschen Außenwirtschaft. In dieser Zeit der wirtschaftlichen Prosperität und der vom Optimismus getragenen Gründerzeit entstanden, erhielt auch der Aktienmarkt einen ungeheuren Aufschwung. Aktienkurse kannten offensichtlich keine Grenzen nach oben, zahlreiche neue Aktiengesellschaften entstanden. Neureiche Börsianer veränderten das soziale Gesicht mancher Wohnviertel bis zur Unkenntlichkeit. Spekulanten jagten Mieten und Bodenpreise in die Höhe, das Spekulationsfieber erfasste weite Teile des Bürgertums.
Deutschland wechselte in rasendem Tempo die Seiten. Innerhalb von knapp 50 Jahren wurde aus einem Agrarstaat ein Industriestaat. Bis 1914 versechsfachte sich die industrielle Produktion Deutschlands, die Ausfuhren wuchsen um das Vierfache, Deutschland wurde auf Anhieb die größte Industrienation Europas, der Anteil an der Weltproduktion lag bei etwa 15 Prozent.
1873 kam es zum spektakulären Gründerkrach. Die österreichische Kreditanstalt verkaufte, aufgrund von Gerüchten über eine bevorstehende Börsenpanik die für damalige Verhältnisse unvorstellbare Summe von 20 Millionen Gulden in Wertpapieren an der Börse. Nur wenige Tage später musste ein angesehenes österreichisches Kommissionshaus Insolvenz anmelden. Allein an diesem Tag, dem 9. Mai 1873, gingen weitere 119 Firmen in Konkurs. Daraufhin fielen die durchschnittlichen Aktienkurse von 180 auf 10 Gulden. Die Krise begann eine Reise um die Welt, im Sommer erfasste sie New York und London, im Oktober war sie in Berlin angekommen.
Deutsche Anleger begannen, misstrauisch geworden durch die Lage am Weltmarkt, ebenfalls ihre Wertpapiere zu verkaufen. Aufgrund der dadurch entstandenen Geldknappheit griff der Zusammenbruch auch auf Aktien-, Spekulanten- und Börsenunternehmen über. 120 von 843 nach 1870 gegründeten Aktiengesellschaften befanden sich 157 bereits 1874 in Liquidation oder hatten bereits wieder Konkurs angemeldet.
Die Gründe des Zusammenbruchs lagen in der Hauptsache an den zügellosen Spekulationen und der explosionsartigen Ausdehnung der Produktion. Das führte zu einem Überangebot an Rohstoffen, Waren und Konsumgütern in Verbindung mit einem deutlichen Preisverfall und damit sinkenden Gewinnen der Anleger. Bereits investiertes Kapital wurde wieder abgezogen, neue Investitionen fanden praktisch nicht mehr statt, die Gründerzeit neigte sich ihrem Ende entgegen. Der Gründerkrach hatte eine wirtschaftliche Konsolidierung Deutschlands zur Folge, allerdings ohne den Industrialisierungsprozess aufhalten zu können.
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